Parallel zum Langzeitprojekt einer zukunftsfähigen Struktur für die gesamte Organisation sollte also ein kurzfristig verfügbares Lösungsmodell angegangen werden, mit dem Projekte außerhalb der notorisch trägen Linienfunktionen bewältigt werden können. Hier hat es sich bewährt, für das konkrete Projekt einen Expert:innen-Zirkel ins Leben zu rufen, der mit kompetenten Mitgliedern quer zu allen Hierarchiestufen, Abteilungen und Regionalgliederungen besetzt ist.
In den Zirkel gehört jede:r hinein, die:der einen konstruktiven Beitrag für das Projekt leisten kann. Wenn ein:e Mitarbeiter:in aus der Produktion wichtige Hinweise für die konkrete Implementierung eines Konzepts geben kann, dann gehört er:sie in den Zirkel und wenn am Standort in Guatemala bereits passende Erfahrungen gesammelt worden sind, dann sollte ein:e Mitarbeiter:in von dort aus dabei sein, und zwar am besten nicht nur per Videoschalte. Alle wesentlichen Aspekte des Projekts sollten im Zirkel abgedeckt werden, die Zahl der Mitglieder dabei aber überschaubar bleiben. Gerade bei kreativitätsfordernden Projekten macht es Sinn, unkonventionelle Menschen vom Visionär bis zum Quertreiber mit an Bord zu haben. Die Arbeit wird dadurch mit großer Sicherheit anstrengender, sehr wahrscheinlich wird sie aber auch Resultate jenseits des Mainstream haben. Auf keinen Fall in den Zirkel gehören dagegen Würdenträger:innen, die sich nur durch ihre Gehaltsgruppe für das Projekt qualifizieren, sowie notorische Bedenkenträger:innen, die jedes Konzept durch ihr Feilen am Detail in die Vollbremsung zwingen.
Vorbilder für diese Art der Expert:innen-Zirkel gibt es viele – von den Qualitätszirkeln nach Toyota-Art über die Teams im Scrum bis zu den basisdemokratischen Kreisen des New Work. Für welche dieser Glaubensrichtungen man sich entscheidet, ist aber nebensächlich, es geht sogar hervorragend ohne eine solche Festlegung. Wichtig ist nur, dass im Zirkel die Bremsen der Befehlskette tatsächlich gelöst sind und Menschen zusammengebracht werden, die in der Linienstruktur so nie aufeinandertreffen würden. Häufig werden das Menschen sein, die sich als Mitglieder rivalisierender Abteilungen spinnefeind sind oder sich gegenseitig bei ihrer Karriere im Wege stehen. Erstaunlicherweise glätten sich die Wogen aber sehr rasch und der Expert:innen-Zirkel beginnt, bei der Arbeit an seiner Aufgabe ein System mit eigener Loyalität zu bilden. Genau damit ist dann die Voraussetzung für Lösungen geschaffen, die weit über die Leistungsfähigkeit einer Einzelperson hinausgehen und auch in der vorstrukturierten Prozesskette der Linienorganisation nicht entstehen könnten.
Es versteht sich fast von selbst, dass im Expertenzirkel keine Mini-Hierarchie aufgebaut werden darf, wenn er seine Stärken wirklich entfalten soll. Hier kann tatsächlich viel von Prinzipien gelernt werden, die alle Agilitätskonzepte gemeinsam haben. Hierzu gehört zunächst die Forderung, den Zirkel nicht durch eng gefasste Ziele an die Leine zu legen. Es gibt die Aufgabe, die der Zirkel zu lösen hat, es gibt einen Zeitrahmen und es gibt ein Budget. In welche Schritte die Problemlösung aufgegliedert wird, welche konkreten Ziele dafür definiert werden und in welchen Entscheidungsstrukturen gearbeitet wird, sollte aber im Zirkel selbst entschieden werden. Gerade bei der Rollenverteilung für eine sinnvolle Teamarbeit kann Scrum Vorbild sein, wo getrennte Rollen für die Einhaltung vereinbarter Regeln, die Dokumentation und die inhaltliche Steuerung eingerichtet werden.
Hinzu kommt eine weitere wichtige Erfolgsvoraussetzung. Der Expertenzirkel ist unweigerlich ein Fremdkörper in der Hierarchie. Rollen im Zirkel decken sich nicht mit denen in der Linie, hart erkämpfte Kompetenzgrenzen werden durchbrochen und Karrierepläne durcheinandergebracht. Folgerichtig versucht die als selbsterhaltendes System agierende Hierarchie, den Störenfried abzustoßen oder einzukapseln. Kompensiert werden kann das nur durch klare Ansagen aus der Unternehmensführung, im Idealfall durch einen festen Machtpaten aus der Führungsetage, der dem Zirkel bei seiner Arbeit den Rücken freihält.